Prof. Dr. Michael Wich
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Im Gespräch

Neue Werte für Minderung der Erwerbsfähigkeit

Für die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach unfallbedingten Gliedmaßenverlusten gelten neue Eckwerte – erarbeitet von einer Expertengruppe. Der Unfallchirurg Prof. Dr. Michael Wich gehörte ihr an und gibt Einblicke in den Prozess der Neubewertung.

Wie ließen sich neue Werte bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach Gliedmaßenverlusten bestimmen?

Für eine Neubewertung der MdE nach Amputationsverletzungen war es notwendig sogenannte Eck- und Rahmenwerte zu definieren. Sie fungieren als feste Orientierungs- und Ausgangspunkte für konkrete MdE-Schätzungen. Als wesentliches Element der MdE ist gesetzlich die Funktionseinschränkung als Folge einer Gesundheitsschädigung genannt. Da nach einer Gliedmaßen-Amputation von einem völligen Funktionsverlust auszugehen ist, wird entsprechend für diesen Gliedmaßen-Abschnitt ein definierter Referenzwert gesetzt. Hierauf hat sich die MdE-Expertengruppe konzentriert.
 

Bei welchen Amputationsverletzungen kam es zu Änderungen bei der Minderung der Erwerbsfähigkeit?

Im Vergleich der jetzt vorliegenden MdE-Bemessungs-Tabelle mit den „alten“ Werten ergeben sich nur wenige Veränderungen. Bei den oberen Extremitäten wurde insbesondere der Wert für den Verlust des Daumens angehoben, konkret von 20 auf 30 Prozent.
 

Wieso wird der Daumenverlust höher bewertet?

Die multiprofessionelle Expertengruppe war sich einig, dass dem Daumen eine herausragende Bedeutung für die Handfunktion zukommt. Durch die Oppositionsbewegung des Daumens werden nahezu alle wichtigen Greiffunktionen der Hand erst ermöglicht. In der modernen Arbeitswelt ist die Sichtbarkeit dieser körperlichen Versehrtheit, eine mit dem Daumenverlust einhergehende, erhebliche Einschränkung vieler relevanter Greiffunktionen, eine Verminderung der Haltekraft sowie der Koordinationsfähigkeit und manuellen Handhabung wesentlich höher anzusehen, als das bisher der Fall war.

Prof. Dr. Michael Wich
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Prof. Dr. Michael Wich

Unfallchirurg am BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin

Stellvertretender Direktor der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am BG Klinikum Unfallkrankenhaus Berlin, Chefarzt der Abteilung für Chirurgie am Achenbach Krankenhaus Königs Wusterhausen, Stellvertretender wissenschaftlicher Leiter der Fachgesellschaft für interdisziplinäre, medizinische Begutachtung (FGIMB)

Für die Minderung der Erwerbsfähigkeit nach unfallbedingten Gliedmaßenverlusten gelten neue Eckwerte – erarbeitet von einer Expertengruppe. Der Unfallchirurg Prof. Dr. Michael Wich gehörte ihr an und gibt Einblicke in den Prozess der Neubewertung.

Wie lassen sich bezogen auf Funktionseinschränkungen vergleichbare Werte den anatomisch unterschiedlichen Unfallfolgen zuordnen?

Bei den zur Anwendung kommenden MdE-Werten ist nicht nur die alleinige anatomisch funktionelle Störung, sondern auch der daraus resultierende Umfang der verminderten Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens und der Verlust der körperlichen Unversehrtheit zu berücksichtigen.
 

Wie ist die Expertengruppe bei der Festlegung von Werten vorgegangen?

Die Arbeitsgruppe hat Eckwerte maßgeblicher Verletzungen mit ihren jeweiligen Funktionseinschränkungen – bezogen auf das Restleistungsvermögen und die Anforderungen des Arbeitsmarkts dokumentiert: So konnten vergleichbare MdE-Klassen gebildet werden. Gliedmaßenverluste an den unteren Extremitäten sind deutlich niedriger als an den oberen Extremitäten einzustufen: Diese Gewichtung galt bereits bei den bisherigen Werten und trifft in ähnlicher Weise auch für die neuen zu. In dieser intensiven Diskussionsphase hat sich besonders bewährt, dass die Expertengruppe sowohl auf unfallchirurgisch-orthopädisches Fachwissen als auch auf reha-, sozial- und arbeitsmedizinische Spezialkenntnisse zurückgreifen konnte.
 

Können Sie ein Beispiel nennen für das Verhältnis der MdE bei Verlust von oberen und unteren Extremitäten?

Die MdE bei Verlust eines Unterschenkels unterhalb des Kniegelenkes wurde mit 40 Prozent eingestuft, ebenso wie der Verlust von vier Langfingern einer Hand. In diesem Vergleich fällt der Gliedmaßenverlust an der unteren Extremität zwar deutlich größer aus. Aber das bei moderner Exoprothetik zu erwartende Funktionsdefizit sah die Expertengruppe bei beiden Verletzungen als vergleichbar an, nicht zuletzt, weil die Errungenschaften moderner Exoprothetik an den oberen Gliedmaßen im Arbeitsleben eine geringere Rolle spielen als an den unteren Gliedmaßen. Was zu berücksichtigen ist: Gliedmaßenverluste an den oberen Extremitäten sind sofort offensichtlich, während Amputationsfolgen an den unteren Extremitäten heute gut verborgen und auch besser kompensiert werden können.

„Damit wurde erstmals der Versuch unternommen MdE-Werte transparent und nachvollziehbar zu definieren.“
Prof. Dr. Michael Wich

Welche Faktoren wurden bei der Überprüfung der bisher geltenden MdE-Werte zu Grunde gelegt?

Neben der anatomisch funktionellen Betrachtung des Gliedmaßenverlustes wurden auch die Bewertungsprinzipien der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) berücksichtigt sowie die Veränderungen und Anforderungen der modernen Arbeitswelt, die Bedeutung des Verlustes der körperlichen Unversehrtheit und der damit verbundene Mehraufwand des betroffenen Menschen. Ein dem System der gesetzlichen Unfallversicherung immanenter Gedanke, nämlich der einer sozialen Befriedungsfunktion in Form der pauschalierten Verletztenrente, war ebenfalls Gegenstand der Überlegungen. Damit wurde erstmals der Versuch unternommen MdE-Werte transparent und nachvollziehbar zu definieren.
 

Welche Rolle spielt die heutige, verbesserte medizinische Versorgung?

Die vorgeschlagenen MdE-Werte beruhen auf der anzustrebenden bestmöglichen Versorgung der versicherten Personen nach Amputationen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf funktionelle Kompensation und Rekonstruktion, Stumpfqualität, Muskelmantel, Nervenfunktionen, Narbenbildung und Hilfsmittelversorgung. „Bestmöglich“ meint dabei das regelhaft erreichbare Therapieergebnis auf Grundlage leitliniengerechter Therapie: Es wird bei dem überwiegenden Anteil der Patientinnen und Patienten erzielt. Dies schließt die Versorgung mit einer modernen Funktionsexoprothese ein.

Wissenswert

Entsprechend der anerkannten MdE zahlt die BG BAU Unfallrenten an Versicherte. Die Reform trägt einer verbesserten Versorgung mit Prothesen und einem sich wandelnden Arbeitsmarkt Rechnung.

22. Januar 2024

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